Edouard Castres, Bourbaki-Panorama (1881) | Foto © Bourbaki Panorama Luzern

Edouard Castres, Bourbaki-Panorama (1881) | Foto © Bourbaki Panorama Luzern

Erlebnis ohne Rahmen

 

Eines der wichtigsten Charakteristika im 360° Film ist das Fehlen der Bildbegrenzung wie sie zum Beispiel auf der Kinoleinwand oder durch einen Monitor gegeben ist. Dies ermöglicht ein Eintauchen in eine virtuelle Welt in der man unter Umständen selber Teil davon wird. Die Rezipierenden können selber entscheiden, in welche Richtung sie schauen und welchem Gegenstand oder welcher Handlung sie ihre Aufmerksamkeit geben wollen. So wird ein höheres Mass an Freiheit, an Autonomie geboten, als dies im klassischen Film der Fall ist. Der 360° Film ermöglicht ein Eintauchen in Welten, das ähnlich einer realen Erfahrung zu einem tiefen Erlebnis werden kann. Der Körper reagiert. Reflexe werden ausgelöst. Dies geht ganz klar weiter, als dies im klassischen Film angeregt werden kann. Die im Film dargestellten Ereignisse sind aus nächster Nähe erfahrbar.  

Den Autor*Innen ermöglicht der 360° Film eine Erzählweise, die nicht auf ein Diktat von genau bestimmten Bildausschnitten in einer vorgegebenen Reihenfolge ausgerichtet ist, sondern detailreiche Welten können eigenständig entdeckt, Informationen in einer offenen Reihenfolge gelesen werden. Ein Eintauchen in unbekannte Welten ist möglich. Persönliche Interpretationen können ermöglicht und Fragmente einer Geschichte nach und nach angeboten werden. Für die Autor*Innen von 360°Beiträgen stellt der rahmenfreie Raum auf der Gestaltungsebene eine grosse Herausforderung dar. Wie kann eine narrative Erzählung aufgebaut werden, wenn die Aktivitäten der Rezipierenden nicht voraussehbar sind? Wie können für die Erzählung entscheidende Informationen in dieser offenen Form vermittelt werden? Wie kann in diesem Setting dramaturgische Spannung erzeugt werden? Mit welchen Mitteln und in welchem Rahmen ist eine Aufmerksamkeitssteuerung trotzdem möglich?  

Die Technik des 360° Films ermöglicht es grundsätzlich, innerhalb eines Lidschlags von einem Raum zum andern zu wechseln. Doch hat sich in der Praxis schnell gezeigt, dass genau diese Übergänge von einer “Welt” zu einer anderen eine grosse Herausforderung darstellen. In der Regel werden langsame und weiche Wechsel eingesetzt, oft über Schwarz. Viele andere Formen sind jedoch auch denkbar und, wie Beispiele zeigen, unter Umständen anregender und spannender. Das Medienformat ist noch jung. Klare Regeln haben sich noch nicht herausgebildet.

Eine optimale Rezeption ist nur mit einem Head Mounted Display (HMD) und mit guten Kopfhörern möglich. Doch ist aktuell die Auflösung der verwendeten Monitore noch beschränkt und die im HMD verbauten Kopfhörer meistens von bescheidener Qualität, was zu einer Einschränkung des Erlebnisses führt. Emotionen in Gesichtern zum Beispiel sind in vielen Filmen nur begrenzt sichtbar, die im Raum platzierten Töne nur in geringem Masse räumlich wahrnehmbar. Auffallend ist weiter, dass Einstellungen um einiges länger sind als im konventionellen Film. Einleben in jeweils neue Welten braucht Zeit, das eigene Erkunden braucht Raum.

Neben den neuen Möglichkeiten werden aber auch schnell die Grenzen sichtbar. So ist es den Rezipient*innen beim 360° Film zwar möglich, frei die Blickrichtung zu wählen, doch ist die Kameraposition und somit der Rezeptionsstandort vorbestimmt. Es besteht keine Möglichkeit, selbständig den Standort zu wechseln oder sich im Raum zu bewegen, wie dies zum Beispiel in ‘echten’ VR-Anwendungen möglich ist. So ist der vermeintliche Freiraum im 360° Film trotz Wegfallen des Bildrahmens auch wieder begrenzt.

Weiterführende Informationen zur theoretischen Vertiefung der Thematik finden sich im Abschnitt Theorie.