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Unterschiedliche Erzählperspektiven 

MITTENDRIN ODER NUR DANEBEN – der POV bestimmt die Tiefe der Immersion. 

 
 

Wie im klassischen Film kann auch im 360°Film aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sogenannten Point of Views, erzählt werden. Aufgrund der Betrachtungsart mit einem Head Mounted Display und der dadurch entstehenden Nähe oder Distanz ergeben sich in der Rezeption grössere Unterschiede. 

Stellen wir uns vor, im Fokus der Geschichte steht das Innenleben eines Hauses. Beim klassischen Film würde man dieses von aussen durch ein Fenster entdecken oder über Ausschnitte vom Innenbereich. Beim 360°Film befindet sich die Betrachterin aber mitten im Haus und kann wählen, welcher Handlung oder welchen Inszenierungen sie folgen will. Diese Wahlmöglichkeit, die unserer gewohnten Wahrnehmung sehr nahe kommt, erhöht die Glaubwürdigkeit der Illusion und vermittelt das Gefühl “wirklich” vor Ort zu sein. Dieser markante Unterschied zum konventionellen Film hat jedoch grosse Auswirkungen auf die Erzählweise. Die betrachtende Person fragt sich: Was mache ich hier? Was ist meine Funktion in dieser Welt? Auf diese Fragen sollte den Zuschauenden im 360°Film möglichst früh eine Antwort gegeben werden. 

Subjektiver Point of View 
In dieser Form erzählt der Autor, die Autorin aus der Ich-Perspektive. Die zuschauende Person wird in die Inszenierung als Protagonistin integriert. Das Umfeld reagiert so, als befände sich der Zuschauer im Film. In einigen Beispielen werden dazu künstliche Körper verwendet oder spezielle Kamera-Rigs eingesetzt, die am Kopf der Schauspieler*in befestigt werden. Im Film wird dadurch eine noch direktere Beteiligung angestrebt. 
In Notes on Blindness zum Beispiel wird der POV genutzt um den Betrachter in die Perspektive des Protagonisten, eines blinden Menschen zu bringen. Man sieht die Handlung durch die Augen der Protagonisten.

Abb: Still aus Film ‘First Impressions: a virtual experience of the first year of life’ | Guardian VR, 2017. In welchem die Sicht eines Neugeborenen ‘simuliert’ wird.

Abb: Still aus Film ‘First Impressions: a virtual experience of the first year of life’ | Guardian VR, 2017. In welchem die Sicht eines Neugeborenen ‘simuliert’ wird.

Gründe für den Einsatz von künstlichen Körpern (Avatare) können sein: Ein Reenactment von einem Vorfall, in den der Protagonist involviert war (siehe SF 360 Beitrag Puls), oder wenn Geschichten aus mehreren Subjektiven erzählt werden, oder z. B. Geschichten über einen Geschlechter-Rollentausch den man selber miterleben kann. Aber auch im Genre des Horrorfilms, wo das Erschrecken – durch das ‘Erleben’ aus der Eigenperspektive – noch gesteigert werden kann.

Abb: Still aus Film ‘Invisible Man’ | Hugo Kejizer, 2018. Beispiel einer subjektiven Beteiligung als Opfer einer bedrohlichen Situation.

Abb: Still aus Film ‘Invisible Man’ | Hugo Kejizer, 2018. Beispiel einer subjektiven Beteiligung als Opfer einer bedrohlichen Situation.

Beobachter Point of View
In diese Kategorie fallen 360°Filme, in der die rezipierende Person die Handlung als passiv Zuschauende verfolgen kann. Diese passive Beteiligung kann durch Blicke oder Dialoge in die Kamera, oder Texteinblendungen und Off-Voice erzeugt werden. Dies dient dazu, die Rezipientin im virtuellen Raum zu integrieren. Damit fühlt sie sich nicht als Eindringling, sondern als willkommenen Gast. Es ist vergleichbar mit einem geführten Besuch in einem Museum oder einem Stadtrundgang. Dazu einige Beispiele:

Abb. Still aus After Solitary | FRONTLINE, 2017. Hier wird die zuschauende Person involviert in dem der Hauptprotagonist mit uns spricht und den Raum erklärt, in dem er sich aufhält und bewegt.

Abb. Still aus After Solitary | FRONTLINE, 2017. Hier wird die zuschauende Person involviert in dem der Hauptprotagonist mit uns spricht und den Raum erklärt, in dem er sich aufhält und bewegt.

Abb.: Still aus The Future of Music | Phenomena Labs, 2016. Eine vermeintliche Musiklegende erklärt auf ironische Weise wie er ein Musikgenre erfunden hat.

Abb.: Still aus The Future of Music | Phenomena Labs, 2016. Eine vermeintliche Musiklegende erklärt auf ironische Weise wie er ein Musikgenre erfunden hat.

Objektiver POV (Unbeteiligte Person)
In diese Kategorie gehören 360°Filme, in dem nicht direkt auf die Zuschauer eingegangen wird. Im klassischen Film ist dies die gewohnte Ausgangslage, resp. Erzählperspektive. Auch hierzu einige Beispiele:

Abb: Still aus Intimate Strangers | Lithic VR, 2016. Ein unbeteiligter, voyeuristischer Blick aus dem Kleiderschrank. In diesem Beziehungsdrama wird während dem ganzen Film nicht auf den Zuschauer eingegangen.

Abb: Still aus Intimate Strangers | Lithic VR, 2016. Ein unbeteiligter, voyeuristischer Blick aus dem Kleiderschrank. In diesem Beziehungsdrama wird während dem ganzen Film nicht auf den Zuschauer eingegangen.

Abb.: Still aus The Pull | Quba Michalski, 2016. In diesem 360°Film wird man Zeuge von Experimenten mit der Schwerkraft. Dabei wird nur durch Text auf die betrachtende Person eingegangen.

Abb.: Still aus The Pull | Quba Michalski, 2016. In diesem 360°Film wird man Zeuge von Experimenten mit der Schwerkraft. Dabei wird nur durch Text auf die betrachtende Person eingegangen.

Kombinationen 
Wie im klassischen Film kann die Erzählperspektive im selben Werk geändert werden. Ein schönes Beispiel dafür ist «Real» (JauntVR, 2018). In diesem Film werden nicht nur POV gewechselt, sondern auch die Projektionsarten. Die Gegenwart wird in einem flachen Format (monoskopisch) gezeigt, die Vergangenheit stereoskopisch. Die Gegenwart wird aus der Objektive erzählt, die Vergangenheit aus der Subjektive. 

Aus der Praxis

Innerhalb des Forschungsprojekts «Erzählen im 360°Film» wurden verschiedene Zuschauerbefragungen durchgeführt. Diverse Rückmeldungen von Teilnehmenden haben gezeigt, dass 360°Filme, in denen künstliche Figuren als Vertreter*in der Rezipierenden eingesetzt wurden, oft auf geringere Akzeptanz stiessen. Als Grund wurde u. A. angegeben, dass dadurch eine Möglichkeit zur Interaktion mit der Umgebung vorgetäuscht würde, die im 360°Film nicht möglich wäre. Die Zuschauer, die Zuschauerin ist dem ausgeliefert, was im Film passiert. Es scheint demnach ein ähnliches Phänomen wie die Schlafparalyse darzustellen: eine vorübergehende Unfähigkeit, sich zu bewegen oder zu sprechen, die beim Aufwachen oder Einschlafen auftritt. Dies führt möglicherweise mehr zu Frustration als zur erwünschten Immersion. Positive Rückmeldungen erhielten dagegen Inszenierungen, in der die zuschauende Person als ‘beobachtende Person’ wahrgenommen wird. Dies wird durch Texthinweise, Blicke oder Dialoge zur Kamera hin erreicht. Wir interpretieren dies so, dass sich die Zuschauer*innen gerne durch einen Guide führen lassen, wie sie dies bei einem Besuch im Museum oder im 360°Theater vielleicht schon erlebt haben. Sie sind sich ihrer Rolle bewusst und stellen sich auf diese ein, auch wenn die interaktive Begrenzung da ist.

Weiterführende Informationen zum Thema POV